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«Die Gesundheitsfolgenabschätzung öffnet Türen»

Edition No. 83
Nov. 2010
Health impact assessments

3 Fragen an Natacha Litzistorf und Antoine Casabianca. Seit einigen Jahren beschäftigen sich viele Kantone und andere Akteure mit Massnahmen zur Reduzierung der Gesundheitskosten. Mit starker Unterstützung von Studien, Verhandlungen zwischen den verschiedenen Partnern und Gesetzesänderungen werden neue Wege aufgespürt und untersucht. Zusätzlich zu dieser traditionellen Lösungssuche haben die Kantone Genf, Jura und Tessin zusammen mit equiterre, einer Organisation für nachhaltige Entwicklung, beschlossen, ihre Aktivitäten auf die Entwicklung eines neuen Instruments auszurichten, das der Entscheidungshilfe dient: die Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA). Die GFA basiert auf dem Prinzip der Gesundheitsförderung und soll im Idealfall von Anfang an in ein Projekt integriert werden. Die GFA bezieht sich auf eine ganzheitliche Definition von Gesundheit im Sinne der WHO. Natacha Litzistorf, Leiterin von equiterre, und Antoine Casabianca, Leiter der Gesundheitsförderungsstelle des Kantons Tessin, beantworten drei Fragen zur GFA.

Welchen Beitrag kann die GFA für das Gesundheitswesen leisten?

Aus politischer Sicht kann dieses Instrument viel dazu beitragen, dass Gesundheitsfragen weiterhin diskutiert werden. Erstens ermöglicht die GFA, dass die notwendige Neuverteilung der öffent­lichen Gelder ins Zentrum der Über­legungen gerückt wird. Sie kann aufzeigen, dass in der Trilogie «Gesundheitsförderung − Prävention − Pflege» eine Verschiebung der Gelder in Richtung des ersten Gliedes der Kette wünschenswert ist, wenn man ein effizienteres Gesundheitssystem anstrebt. Zweitens öffnet die GFA Türen zu Akteuren, die sich in der Regel nicht mit Gesundheitsfragen beschäftigen. Die GFA macht offensichtlich, dass Gesundheit alle etwas angeht. Genau das ist in den Kantonen Genf, Jura und Tessin passiert; die anfängliche Skepsis gegenüber der GFA ging rasch in Verständnis und Akzeptanz über. Und wer «alle» sagt, der meint: gemeinsam von allen getragene Verantwortung für die Gesundheit, namentlich bezüglich Kosten und Betreuung der Bevölkerung.

Was kann die GFA auf der technischen Ebene leisten?

Im Gegensatz zu anderen Instrumenten, die mit einem Fokus auf negative Aspekte die Zwänge und Beschränkungen hervorheben und die Rolle von Sank­tionsmassnahmen spielen, bietet die GFA eine anders geartete Ent­scheidungs­hilfe, die auf die Optimierung eines Projekts ausgerichtet ist, egal in welchem Stadium sich das Projekt befindet. Die in den Kantonen durchgeführten Fallstudien zeigen das sehr schön. Die GFA hat sich als sehr nützlich erwiesen, weil sie die positiven Auswirkungen eines Projekts herausstreicht und zu rationalen und operationellen Entscheiden führt, welche negative Auswirkungen verhindern. Der wichtigste Vorteil der GFA ist ihre Flexibilität. Sie passt sich an alles an: an den Kontext, den Interventionsbereich, den Zeitplan, die Mittel usw. Tatsächlich haben die drei Kantone der GFA-Plattform dieses Instrument ganz unterschiedlich und ganz ihren Bedürfnissen entsprechend angewendet.

Was haben die Kantone, die die GFA eingeführt haben, bisher erreicht?

Im Kanton Genf ist die GFA im Gesundheitsgesetz verankert und kann per Regierungsratsbeschluss aktiviert werden. Die GFA wurde bei grossen Raumplanungsprojekten eingesetzt, zusammen mit anderen Instrumenten wie der Umweltverträglichkeitsprüfung. Daraus ergaben sich viele Synergien, was beweist, dass beim gleichzeitigen Einsatz solcher Instrumente Kosten gespart werden können. Im Rahmen der Initiative gegen das Passivrauchen war die GFA ein hilfreiches Mittel, um alle relevanten Akteure erst mal an einen Tisch zu holen, ruhig zu diskutieren und die Debatte zu entpolitisieren. In einer zweiten Stufe dienten die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der GFA den einzelnen Mitgliedern des Grossen Rats dazu, sich ihre Meinung und Position zu bilden. Das hat gezeigt, dass zwischen Wissenschaft und Politik eine intakte und förderliche Verbindung besteht.  
Im Kanton Jura hat das politisch-administrative System seine Kapazitäten verstärkt, um die GFA in die Entscheidungsabläufe einzuführen und sie durch Verordnungen der Regierung zu implementieren. Die departementsübergreifende Zusammenarbeit, die Teil der Nachhaltigkeitspolitik des Kantons Jura ist, ermöglichte ein ganzheitliches Konzept der Gesundheitsförderung und einen kollektiven Lernprozess im Bezug auf die GFA und ihre Tragweite. Heute scheint die GFA in der Kantonsregierung zu einem selbstverständlichen Reflex geworden zu sein. Sie hat bei diversen Problemen Anwendung gefunden, zum Beispiel in der Raumplanung, in der Regionalpolitik, bei Krippenplätzen usw.
Im Tessin wurde eine interdepartementale Kommission mit der Vorgehensweise bezüglich der GFA betraut. Sie war in erster Linie darauf ausgerichtet, die GFA in das Beschlussverfahren zu integrieren. Dazu wurden die Mitglieder dieser GFA-Kommission in multisektoraler Gesundheitspolitik geschult, es wurden praktische Instrumente für die Umsetzung einer GFA entwickelt und schliesslich der Gegenstand ausgewählt, um das Instrument auf Departements­ebene anzuwenden. Dank dieser Arbeit wurde ersichtlich, welch grossen Einfluss die Politiken ausserhalb des Gesundheitsbereichs auf die Gesundheit haben. Neben den realisierten GFA gibt es weitere überzeugende Resultate. So wurde der Gesundheitsdienst von verschiedenen Departementen angefragt, bei der Konzeption ihrer Politiken mitzuarbeiten. Zum Beispiel bei der kantonalen Strategie gegen die Klimaerwärmung, bei der Umwelt- und Energiestrategie, in gewissen Bereichen des kantonalen Richtplans oder in der Wirtschaftsförderung. Die GFA hat sich also vom «Trojanischen Pferd» zur Trägerin einer systematischen Vision gemausert, die Gesundheit als Faktor für den multisektoralen Fortschritt betrachtet.

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